idea-Interview mit Rainer Schacke

Bild Interview Idea Dr. Rainer Schacke

idea Spezial „Gemeinde“ 2020

Urbane Mission

Gottes Herz für Städte entdecken

Heute leben in Deutschland drei von vier Menschen – 77 Prozent – in Städten und Ballungsräumen. Urbane Lebensräume sind kreative Kraftwerke, die Trends und neue Ideen hervorbringen – auch für missionarisches Leben. Davon ist der Berliner Theologe und Experte für urbane Mission Rainer Schacke überzeugt. Um eine Stadt und seine Bewohner mit dem Evangelium zu erreichen, braucht es einen Paradigmenwechsel, erklärt er im Gespräch mit idea-Redakteurin Romy Schneider.

idea: In den Anfängen verbreitete sich die christliche Botschaft zuerst in großen Städten. Bevor der Apostel Paulus beispielsweise in Athen das Evangelium verkündigte, unternahm er einen Stadtspaziergang. Beginnt urbane Mission so noch heute?

Rainer Schacke: Auf jeden Fall. Urbane Mission ist ein zentrales Thema der Bibel. Paulus nutzte Städte als strategische Orte, um das Evangelium voranzubringen. Er war erschüttert über den Götzendienst in Athen. Er schaute sich auf dem Marktplatz um und diskutierte mit Bewohnern verschiedener sozialer Stände. Er lernte, wie sie ticken, was ihre Nöte sind und welche Themen sie beschäftigen. Mit seiner darauffolgenden öffentlichen Predigt über die Statue für den unbekannten Gott holte Paulus die Menschen auf bekanntem Terrain ab. Sie hatten eine Ahnung von Gott, ein diffuses Wissen. Hier setzte Paulus an. Ein sehr schönes Beispiel dafür, wie man von den Menschen selbst her denkend ins Gespräch über das Evangelium kommt. Paulus ließ sich auf die Stadt ein. Er blendete sie nicht aus, sondern war mittendrin.

Das von Ihnen geleitete Berliner Institut für urbane Transformation bietet auch den Studiengang „Urbane Mission“ des Theologischen Seminars Rheinland an. Was können die Absolventen danach besser?

Sie lernen Städte zu lesen, Kontexte zu analysieren und die Wahrnehmungen als Herausforderung zum kreativen Handeln zu begreifen. Sie lernen auch, die Bibel durch eine städtische Brille zu lesen und Gottes Herz für Städte zu entdecken. Das berufsbegleitende Studienprogramm ist bislang in Deutschland ein Novum. Die Absolventen gewinnen ein ganzheitliches Verständnis für den Kontext Stadt.

Welche Kontexte meinen Sie?

Stellen Sie sich eine Plattenbausiedlung im Osten vor. In diesen Kontext hinein zog einer unserer Studenten, ein junger Pastor, mit einem Gemeindegründungsteam, nachdem sie vorher schon in der Innenstadt aktiv gewesen waren. Sie renovierten ein verfallenes Gebäude. Zu DDR-Zeiten war es ein Gemeinschaftstreff in der Siedlung. Vor den Augen der Anwohner ist daraus ein neues Zentrum entstanden, aber nun von Christen betrieben. Ein offenes Gemeindehaus mit Angeboten für die Nachbarschaft. Diese „urbanen Missionare“ sind Hoffnungsstifter im Stadtteil. Sie haben es geschafft, Menschen, die aus einem atheistischen Hintergrund kommen, für den Glauben zu interessieren. Manche haben sich bekehrt. Man hört von solchen Projekten relativ wenig. Aber es sind Modelle, die wir brauchen. Auch die Hipster-Gemeinden in den Szenevierteln einer Stadt sind wichtig, aber davon gibt es auch schon einige. Christen müssen weiter gehen. Auch da, wo es eher unansehnlich und schwierig wird, ist Jesus unterwegs und seine Leute folgen ihm und teilen ihr Leben mit den Menschen.

In Städten gibt es oft bereits eine bunte Vielzahl an existierenden Gemeinden. Um eine ganze Stadt mit dem Evangelium zu erreichen, braucht es ihr Miteinander.

In Gemeinden braucht es vor allem eine Haltung und ein theologisches Verständnis darüber, dass das, was in „meiner“ Gemeinde geschieht nicht das Ende der Mission ist. Wir müssen über unsere eigene Gemeinde hinaus ein Verständnis vom Leib Jesu und vom Reich Gottes in der Stadt entwickeln. Die Art, wie wir miteinander umgehen, ist ein Zeugnis auf Jesus hin. Einheit heißt nicht Gleichmacherei. Doch wir entwickeln schlicht und ergreifend keine Kraft in Städten, wenn wir nicht lernen, viel mehr miteinander zu arbeiten und wahrzunehmen, was Gott in der Stadt tut. Es gibt schon gute Beispiele. Manche Zusammenarbeit funktioniert gut auf Allianz-Ebene. Oft braucht es aber noch mehr gemeinsame Sicht für das Umfeld. In Großstädten bilden sich zunehmend christliche Stadtnetzwerke – „Gemeinsam für Berlin“ ist hier eine Art Modell. Es nutzt auch einer einzelnen Gemeinde, wenn man gemeinsam betet und eine Strategie für eine Nachbarschaft oder einen Stadtteil entwickelt. Es hilft, wenn man weiß, welche andere Gemeinde mit Räumlichkeiten aushelfen kann oder gute Kontakte in die regionale Politik hat. Es gibt viele Möglichkeiten, wo Christen in einer Stadt einander unterstützen können mit Angeboten, die eine einzelne Gemeinde vielleicht nicht mehr stemmen kann, wie eine Teenagerarbeit oder soziale Projekte.

Dr. Rainer Schacke

Gemeinsame Vision für die Stadt

Was ist Ihnen grundlegend wichtig beim Thema „Urbane Mission“?

Um eine Stadt mit dem Evangelium zu erreichen, braucht es diesen Paradigmenwechsel von einer „Ich und meine Gemeinde“-Haltung hin zu einer größeren Vision des Reiches Gottes. Damit hängt zusammen, dass wir auch die größere Vision für einen Ort entwickeln. Mir ist wichtig, dass wir Gottes Herz für Städte und ihre Menschen entdecken. Wenn wir als Christen in irgendeiner Weise wieder relevant werden und bleiben wollen, sollten wir die Städte in den Blick nehmen. Wir haben unseren Einfluss verschenkt und auch längerfristig verloren, wenn wir uns hier nicht engagieren. Gemeinden sollten lernen, mutig von Gottes Auftrag her zu denken und Menschen in diese Nachfolge zu führen. Wenn es nur darum geht, Programme in den Gemeinden zu fahren, dann haben wir das Ziel verfehlt.

Was schlagen Sie vor?

Wir verschenken als Christen so viele Möglichkeiten in unseren Einflusssphären – etwa am Arbeitsplatz. Wir sollten mehr ein Verständnis von Beruf als Berufung entwickeln. Was wir wieder wecken müssen, ist, dass dort, wo Gott uns hingestellt hat, unser Platz als Zeuge Jesu ist. Und mit ihm dürfen wir gestalten. Eine Gemeinde könnte etwa Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sonntags im Gottesdienst sichtbar machen. Sie erzählen lassen, was sie in ihren Berufen erleben.

Heißt urbane Mission also zunächst Transformation von innen heraus?

Das ist ein zirkulierender Prozess. Das eine bedingt das andere. In dem Moment, wo man beispielsweise im Gottesdienst Möglichkeiten gibt, über Erlebnisse mit Gott zu berichten, auch im beruflichen Alltag, steigt die Bereitschaft zur Mission. Es ermutigt auch andere. Nachdem wir einen „Mit Gott im Job“-Abend in meiner Gemeinde angeboten hatten, berichtete ein Mann, der in der Forschung tätig ist, dass ein Kontakt zu einem anderen Christen am Arbeitsplatz entstanden sei. Dann hätten beide überlegt, noch einen anderen Christen anzusprechen und es ist ein Gebetskreis entstanden. Oft sind es diese Taten, die lauter sprechen als die Worte. Wir brauchen ein Umdenken in den Gemeinden. Ein neues Nachdenken darüber, wie wir Mission verstehen. Es geht nicht darum, Mission zu „machen“. Es braucht eine enge Jesusbeziehung und ein Teilen des Herzens Gottes, der unterwegs ist und Menschen erreichen will. Und mit ihm dürfen wir kreativ werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Der Interviewpartner Rainer Schacke ist gelernter Journalist und Praktischer Theologe. Er promovierte im Bereich urbane Gemeindeentwicklung und Milieutheorie. Der Dozent am Theologischen Seminar Rheinland leitet das Studienprogramm Urbane Mission und das Berliner Institut für urbane Transformation (BIT), das nach eigenen Angaben Christen in der Stadt aktivieren, zusammenbringen und ausrüsten möchte, das Beste für ihre Stadt zu suchen. Mit einem Teil seiner Zeit ist er Pastor in der Kirchehoch3. www.stadtinstitut.de

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